Natur genéissen – ein Vorzeigeprojekt mit weiterem Ausbaupotential
Wie kann man Anreize für landwirtschaftliche Betriebe schaffen, Umwelt-, Natur- und Klimaschutz mit landwirtschaftlicher Praxis zu vereinen? Wie kann man die Lebensmittelproduktion sowie auch die Essgewohnheiten der nächsten Generation nachhaltiger gestalten? Wie kann auf Gemeindeebene wirksame Sensibilisierungsarbeit in Sachen Umwelt- und Naturschutz betrieben werden?
So oder so ähnlich werden wohl die Fragen der Verantwortlichen damals – 2012 – gelautet haben, als die Idee von Natur genéissen beim Naturschutzsyndikat SICONA entstanden ist. Das Projekt geht viele Herausforderungen in einem Atemzug an und gilt als absolutes Vorzeigeprojekt in Luxemburg, das mittlerweile auch in den Naturparks Our und Öewersauer sowie im Natur- und Geopark Mëllerdall Einzug gehalten hat. Das Oekozenter Pafendall war von Anfang an mit dabei.
Es lohnt sich ein Rückblick. Die Verantwortlichen von Natur genéissen können auf eine bewegende, aber auch erfüllende Zeit zurückblicken. Das Team um Natur genéissen ist mit dem Projekt gewachsen – und stellt sich den Möglichkeiten und Herausforderungen der Zukunft.
Partnerschaft für Biodiversität, nachhaltige Produktion und Ernährung
Das Projekt verbindet eine auf Nachhaltigkeit und Schutz der natürlichen Lebensräume ausgerichtete Landwirtschaft mit nachhaltig hergestellten und gesunden Lebensmitteln für unsere Kinder in den Maisons relais der teilnehmenden Gemeinden. Die Schlüsselelemente des Erfolges sind eine gute Kommunikation und Sensibilisierungsarbeit auf allen Ebenen sowie Realitätsnähe.
Das Interesse am Projekt war von Anfang an groß. Das Projekt zählt heute 32 Partnergemeinden in den Naturschutzsyndikaten SICONA Centre und Sud-Ouest sowie in den Naturparks Öewersauer und Our und im Natur- und Geopark Mëllerdall. Die Gemeinden kaufen ihre Waren für die Zubereitung der Gerichte in den Maisons relais nach strengen Kriterien ein, und zwar von den 38 landwirtschaftlichen Betrieben, deren Produktionsweise und Flächengestaltung den Ansprüchen von Natur genéissen entsprechen. Tendenz in allen Bereichen: steigend!
Die Ekologesch Landwirtschaftsberodung des Oekozenter Pafendall ist Teil des Expertengremiums, das Natur genéissen bei der Ausarbeitung der Kriterien für landwirtschaftliche Betriebe unterstützt und sich bei Bedarf beim sogenannten „reality check“ zwecks Akkreditierung neuer Betriebe beteiligt. Grundprinzip des Projekts ist es, dass jeder Beteiligte – die landwirtschaftlichen Betriebe, die Naturschutzsyndikate, Gemeinden und Maisons Relais – einen Nutzen vom Projekt hat, aber gleichzeitig auch gewisse Anforderungen einhalten muss.
Die Ausarbeitung der Kriterien beruht auf den Zielen, die sich die Partner gesetzt haben, zum Beispiel: wie kann eine Erhöhung der Biodiversität auf den landwirtschaftlichen Flächen erreicht werden? Hierzu werden auch die gesetzlichen Rahmenbedingungen analysiert und bestehende Lastenhefte unter die Lupe genommen. So werden mögliche Kriterien auf ihre Umsetzbarkeit auf dem Betrieb, auf ihre Strenge und zuletzt auf ihre Kontrollierbarkeit hin überprüft. Erst dann wird ein Kriterium in das Lastenheft von Natur genéissen übernommen.
Die Verantwortlichen von SICONA haben den größten Arbeitsaufwand im Projekt, sind sie doch entscheidend an der Ausrichtung, Kontrolle und als Bindeglied zwischen allen Akteuren beteiligt. Für das Naturschutzsyndikat ist diese Arbeit durchaus zielführend, denn diese fruchtet durch den beständigen Austausch mit den Betrieben in mehr Verständnis in der Landwirtschaft für den Naturschutz. Dieser Sachverhalt kann auch als Türöffner für neue Projekte zugunsten schützenswerter Arten und Biotope fungieren.
Strenge Anforderungen an landwirtschaftliche Betriebe
Als Voraussetzung für die Teilnahme an Natur genéissen, müssen die Betriebe ein Lastenheft für ihren gesamten Betrieb sowie ein Lastenheft für das jeweilige Produkt, welches sie über das Projekt vermarkten wollen, einhalten. Je nachdem, wie der Betrieb aufgestellt ist und wie sein Standort beschaffen ist, erfordert dies einen mehr oder weniger hohen Aufwand, sowohl was die Bewirtschaftung als auch die Betriebsausrichtung anbelangt. Die Betriebskriterien umfassen zum einen allgemein verpflichtende Kriterien, zum anderen kann der Betrieb über freiwillige Kriterien Punkte für zusätzliche Umweltleistungen erhalten, um eine Mindestpunktzahl zu erreichen. Einige Beispiele:
Beispiel 1: „Naturnahe Flächen und Strukturelemente auf Betriebsebene“
Obligatorisch bei den Betriebskriterien ist ein Anteil von 5 % an Strukturelementen und naturnahen Flächen an der in Luxemburg befindlichen landwirtschaftlichen Nutzfläche, wovon mindestens 3 % aus Strukturelementen wie z.B. Hecken oder Blühstreifen bestehen müssen. Bestimmt wird dieser Wert durch Fachpersonal des SICONA und der Naturparks, die die Elemente mithilfe von Luftbildern digital erfassen und so deren Fläche berechnen.
Beispiel 2: „Vielfältige Fruchtfolge“
Zusatzpunkte kann der Betrieb erhalten, indem er über den Flächenantrag vorweist, dass er auf seiner Ackerfläche mindestens fünf verschiedene Kulturen anbaut, wobei jede Kultur einen Anteil von 10 % nicht unterschreiten darf. Zusätzlich ist der Anteil von Mais auf max. 30 % der Ackerfläche begrenzt.
Beispiel 3: „Eingesetzte Erden und Kultursubstrate“ im Gemüseanbau
Nur bodengebundener Pflanzenanbau ist erlaubt. Hiervon ausgenommen ist der Anbau von Pflanzen für die Produktion von Zierpflanzen und Kräutern, die dem Endverbraucher in Töpfen verkauft werden, und der Anbau von Sämlingen oder Setzlingen in Behältnissen für weitere Umpflanzung.
Alle eingesetzten Anzuchterden müssen torfreduziert (maximal 70 Volumen-% Torf) sein. Hiervon ausgenommen sind zugekaufte Anzuchtpflanzen. Alle anderen Erden müssen torffrei sein. Auch der Einsatz von Torf zur Anreicherung der Böden mit organischen Substanzen ist nicht gestattet. Ebenso ist die Verwendung von Styromull und anderen synthetischen Stoffen auf Böden und in Substraten verboten. Kontrolliert wird diese Bedingung über das Vorlegen von Rechnungsbeträgen sowie durch Begutachtung der Etikettierung der im Lager befindlichen Ware.
Ein Zugewinn an naturnahen Flächen und nachhaltigen Bewirtschaftungsmethoden wird auf diese Weise garantiert. Jene Betriebe, die in ihrer täglichen Arbeit bereits naturnah wirtschaften, werden honoriert. Im Gegenzug schafft Natur genéissen einen Absatz für diese nach hohen Standards produzierten Produkte und damit eine faire und stabile Einkommensquelle für die teilnehmenden Betriebe.
Gemeinden und Maisons relais – im Interesse der Natur und der Kinder
Das Engagement von Natur genéissen erstreckt sich zudem auf die Sensibilisierung der Verantwortlichen der Gemeinden, damit sie sich an Natur genéissen beteiligen und die verarbeitenden Küchen der Maisons relais bei der Umsetzung begleiten. Für diesen Bereich wurde ebenfalls ein Lastenheft ausgearbeitet, das die Erfordernisse für die Küchen definiert. Das Lastenheft verpflichtet zum einen zum Einkauf von mindestens 30 % nach Bio-Richtlinien. Zum anderen gibt das Lastenheft aber auch eine Rangfolge vor, nach der Produkte beim Einkauf ausgewählt werden sollen. Produkte von Natur genéissen Produzent:innen haben immer Vorrang. Danach folgen Produkte aus der Region oder mit regionalem Bezug. Erst danach sollen Produkte bezogen werden, die keinen regionalen Bezug haben. Es wird zusätzlich definiert, welche Produkte zu vermeiden sind. Produkte, die saisonal und in der Region verfügbar sind, dürfen nicht aus dem nicht-europäischen Ausland eingekauft werden (z.B. Erdbeeren oder Spargel im Dezember oder Äpfel aus entfernten Gegenden wie z.B. Ägypten).
Das Lastenheft bezieht sich aber auch auf andere Sparten, so zum Beispiel, welcher Fisch bezogen werden darf. So muss beim Kauf auf das Siegel von MSC oder von Naturland („Wildfisch“) geachtet werden. Bei Fisch aus Aquakultur gilt es, auf den Bezug mit biologischer Zertifikation zu achten! Die von Natur genéissen geleistete Arbeit unterstützt somit wichtige Lerneffekte bei allen Beteiligten und sorgt für mehr Bewusstsein in Sachen Nachhaltigkeit im Umgang mit Lebensmitteln.
Nicht zuletzt kommt Natur genéissen den Kindern zugute, denn sie erhalten in den Maisons relais frische und qualitativ hochwertige Lebensmittel! Das Projekt legt damit den Grundstein für eine gesunde und ausgewogene, und durch seine saisonale und regionale Note auch nachhaltige und enkeltaugliche Ernährung. Ein Dank gilt hier ausdrücklich den Verantwortlichen aus den Gemeindeverwaltungen, den Maisons relais und ihren Küchen, durch deren Wirken Natur genéissen bei den Kindern auf dem Teller landet.
Weiterentwicklung und Ausbaupotential
Natur genéissen ist in seiner Vielseitigkeit in Luxemburg wohl einzigartig und zeigt, wie durch uneingeschränktes Engagement auf breiter Ebene viel für alle Beteiligten und nicht zuletzt für die Natur erreicht werden kann.
Absolut zu begrüßen ist demnach, dass das Projekt sich seit Kurzem nicht nur auf die Partnergemeinden von SICONA erstreckt, sondern auch auf die drei Naturparks Our, Öewersauer und Mëllerdall. Wünschenswert wäre es, wenn diese Entwicklung weiter vorangetrieben würde und die Kriterien und Produkte von Natur genéissen auch in anderen Kantinen und – warum nicht?! – sogar in Restaurants Einzug halten würden.
Alle am Projekt Beteiligten sind sich einig, dass die Arbeit an den Kriterien und landwirtschaftlichen Produktionsweisen im Interesse von Umwelt- und Naturschutz und Tierwohl niemals abgeschlossen sein wird. So müssen 2023 etwa alle Kriterien im Hinblick auf die neuen Gegebenheiten und Regeln der gemeinsamen Agrarpolitik überprüft und auch angepasst werden.
Außerdem halten durch die Diversifizierung in der Landwirtschaft neue regionale Produkte Einzug auf dem Markt. Um ihre Nachhaltigkeit zu gewährleisten, müssen zum einen neue Lastenhefte entwickelt werden, zum anderen gilt es, einen Absatz für sie in den Kantinen zu erzeugen. So arbeiten die Verantwortlichen aktuell an einem Lastenheft für verarbeitete regionale Produkte wie Marmelade, Pflanzenöle, Käse und Nudeln.
Das Projekt wird derzeit von den Gemeinden mit der Unterstützung des Umweltministeriums finanziert.
Mehr Informationen zum Projekt und seinen Kriterien finden sie unter: https://sicona.lu/projekte/natur-geneissen/